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Vernehmlassung Via sicura - Velofahren soll legal bleiben

Zusammenfassung für Eilige

Im November 2008 hat der schweizerische Bundesrat unter dem Titel Via sicura 60 Einzelmassnahmen zur Hebung der Verkehrssicherheit in Auftrag gegeben. Darunter ist ein Verbot des normalen Velofahrens ohne speziellen Schutzhelm. Der Bundesrat schreibt im Bericht, dass eine solche Massnahme kontraproduktiv wäre, will sie aber trotzdem einführen.

Dass der Bundesrat diese Massnahme als kontraproduktiv bezeichnet, ist korrekt und entspricht dem Stand der seriösen Forschung. Dass er sie trotzdem einführen will, folgt einer politischen Logik und hätte für Verkehrssicherheit, Gesundheit und Lebensqualität schädliche Auswirkungen. Konkret sieht das so aus:

Empfehlungen

Velofahren ist bereits heute eine gesunde und sichere Angelegenheit. Die beste Art zur Erhöhung der Verkehrssicherheit besteht darin, das Velofahren insgesamt zu fördern (Safety in Numbers). Konkret:

Wohin will die Schweiz? Zwei Velowelten

In Dänemark und in den Niederlanden ist das Velo ein beliebtes Verkehrsmittel. Die Menschen brauchen es für mehr als 20% ihrer Wege. Entsprechend angenehm ist das Verkehrsklima. Kaum jemand kommt auf die Idee, beim Velofahren einen Helm zu tragen. Verletzungen und Todesfälle beim Velofahren sind extrem selten. Die Menschen sind gesünder und leben länger als in Staaten mit weniger Veloverkehr und höherer Helmtragquote.

In den USA ist das Velo ein Kinderspielzeug und für einige ein Sportgerät. Weniger als 1% der Verkehrswege werden mit dem Velo zurückgelegt, dafür tragen 40% der Velofahrenden einen Helm. Trotzdem sind Verletzungen und Todesfälle sechsmal so häufig wie in Dänemark oder den Niederlanden. Weil die Menschen nicht Velo, sondern Auto fahren, verbrauchen sie nicht nur so viel Oel, dass das Land Kriege führt, um den Nachschub zu sichern, sie werden dabei auch immer dicker: die grassierende Fettsucht macht die USA zur zweitfettesten Nation der Welt (das fetteste Land ist heute Australien, wo das normale Velofahren schon seit 1992 verboten ist).

Die untenstehende Abbildung zeigt den Anteil des Veloverkehrs am Gesamtverkehr (den so genannten Modalsplit) in verschiedenen Ländern auf der linken Y-Achse, die Todesfälle pro Milliarde Velokilometer auf der rechten und die Helmtragequote unten:

Hier ist deutlich zu sehen, dass das Velofahren nicht dort am sichersten ist, wo am meisten Helme getragen werden, sondern dort, wo am meisten Menschen Velo fahren.

Wer die Verkehrssicherheit für die Velofahrenden verbessern will, muss dafür sorgen, dass mehr Velo gefahren wird. Und hier kommt die Problem: je mehr Werbung für Helme gemacht wird, desto weniger Leute fahren Velo - erst recht, wenn das normale Velofahren ganz verboten wird. Aus diesem Grund wäre ein solches Verbot, wie der Bundesrat korrekt feststellt, kontraproduktiv.

Wo steht die Schweiz...

Mit einem Anteil des Velos von 6% am Gesamtverkehr steht die Schweiz in der Nähe Finnlands, weit weg von den Veloparadiesen, aber noch nicht bei den Amerikanern. Der Modalsplit stieg in den Neunzigerjahren mit dem Aufkommen der MTB-Schaltungen und dem Abflauen der Töffliwelle. 1999 startete die BfU ihre Velohelmkampagne, seither verliert das Velo im Verkehr an Boden. Besonders stark abgenommen hat die Velonutzung bei Kindern und Jugendlichen, denen das normale Velofahren von Schulen und Eltern unter dem Eindruck der BfU-Kampagne de facto schon verboten wurde (Sauter Daniel, Mobilität von Kindern und Jugendlichen, Bundesamt für Strassen 2008, PDF-Datei).

...und wo will sie hin?

Die Schweiz kann sich nun die Frage stellen, welche Rolle das Velos im Verkehr einnehmen soll, und ob sie den Weg der USA und Australiens oder den von Dänemark und Norwegen gehen will.

Mit der Kampagne der BfU hat die Schweiz die Velonutzung besonders bei Kindern und Jugendlichen gesenkt und sich so richtung australisches Modell bewegt. Mit dem Verbot des normalen Velofahrens würde sie dort ankommen. Dieser Prozess ist jetzt noch umkehrbar.

Dann machen wir halt etwas Kontraproduktives oder die Politik als Kunst des Möglichen

Angesichts der zum Teil befürchteten möglichen kontraproduktiven Auswirkungen eines Obligatoriums vor allem bei erwachsenen Personen ist vorgesehen, diese Tragpflicht auf Verordnungsstufe vorerst nur für Kinder bis 14 Jahre vorzuschreiben (Bericht zur Via sicura, Seite 39).
Fassen wir zusammen: Ein solcher doppelter Rückwärtssaldo mit gestreckter Schraube ist in der Schweizer Politik vermutlich präzedenzlos. In jeder anderen Sachfrage würde man auf eine Massnahme ganz einfach verzichten, wenn man schon selber gemerkt hat, dass sie kontraproduktiv ist. Was ist hier passiert?

Den besten Hinweis erhält man bei der Betrachtung einer anderen Verkehrssicherheitsfrage: Beim Telefonieren (mit oder ohne Freisprechanlage) fährt ein Autofahrer gleich schlecht wie mit einer Blutalkoholkonzentration von 0.8 Promillen. Auf eine Medienanfrage erklärte der Sprecher der BfU, dass diese nicht vorhabe, etwas gegen das Telefonieren während des Autofahrens zu unternehmen, weil solche Massnahmen laut Umfragen keine Akzeptanz fänden. Ob eine Massnahme zur Verkehrssicherheit ergriffen wird, hängt also nicht davon ab, ob sie etwas nützt, sondern ob eine Mehrheit der Autofahrenden sie gut findet:

In der Umfrage der BfU zur Akzeptanz möglicher Verkehrssicherheitsmassnahmen sprachen sich über 60% gegen schärfere Alkoholkontrollen aus. Ebenfalls über 60% der Befragten waren hingegen für ein Verbot der normalen Velofahrens.

Das normale Velofahren soll also verboten werden, weil eine Mehrheit der Autofahrer auf Alkohol am Steuern nicht verzichten will. Noch deutlicher wird dieser Mechanismus bei der vorgesehenen Reihenfolge: Der Bundesrat verspricht, "vorerst" nur den Kindern das normale Velofahren zu verbieten. Nun gibt es bei autofahrenden Erwachsenen oder zu Fuss gehenden Senioren viel mehr Kopfverletzungen als bei velofahrenden Kindern, und selbst wenn man nur den Veloverkehr betrachten wollte, gäbe es bei Menschen ab 60 mehr Kopfverletzungen zu verhindern als bei Kindern. Man will also nicht nur ein kontraproduktives Mittel einsetzen, sondern auch noch ausgerechnet dort, wo am wenigsten Handlungsbedarf besteht. Aber eben: ein Verbot des normalen Velofahrens für Kinder findet in der oben erwähnten Umfrage sogar eine Zustimmung von 85%.

Hier spielt noch ein weiterer hässlicher Mechanismus: man schiebt die Verantwortung vom Täter zum Opfer. Man darf weiterhin betrunken rasen und gleichzeitig telefonieren, die Fussgänger und Velofahren haben sich gefälligst entsprechend auszurüsten. Eine solche Politik ist nicht nur aus ethischer Sicht stossend, sie ist auch unwirksam: die heutigen Velohelme bieten keinen Schutz bei Kollisionen mit Motorfahrzeugen oder gar vor tödlichen Verletzungen (die Hersteller behaupten das übrigens auch gar nicht), und einen Velohelm bzw. eine Ganzkörperschutzausrüstung zu konstruieren, die einen solchen Schutz böte und von normalen Menschen getragen werden könnte, ist physikalisch nicht möglich. Mit dem Verbot des normalen Velofahrens rettet man folglich keine Leben. Man gibt nur den Toten die Schuld und lässt die Täter gewähren. Wer Leben retten will, kommt nicht darum herum, sich mit der Gefahrenquelle zu befassen.

Dass wirksame Massnahmen gegen die das Rasen und Fahren unter Drogen keine Mehrheiten finden, ist natürlich traurig. Nur wird die Sache nicht besser, wenn man, nur um "etwas zu tun", beim Veloverkehr sehenden Auges noch Schaden anrichtet. Worin dieser Schaden besteht, sehen wir im nächsten Kapitel.

Wo das normale Velofahren schon verboten ist

Wer im besten oder noch fortgeschrittenerem Alter steht, erinnert sich vielleicht an den Abstimmungskampf zum Gurtenobligatorium. Die Befürworter hatten ein leichtes Spiel: sie brauchten nur auf die vielen Länder zu verweisen, die bereits ein Gurtenobligatoriume eingeführt hatten, und auf die überaus positiven Erfahrungen damit.

In der Botschaft zur Via Sicura steht nichts von ausländischen Erfahrungen. Der Satz "Bis heute wurde auf Freiwilligkeit und entsprechende Massnahmen zur Sensibilisierung und Motivierung gesetzt" suggeriert sogar, dass es kein Land auf der Welt gibt, in dem das normale Velofahren schon verboten ist, die Schweiz mithin eine Pionierrolle einnähme.

Nun ist dem keineswegs so. In den folgenden Staaten ist das normale Velofahren in den letzten 15 Jahren verboten worden, entweder einem Teil der Bevölkerung oder gleich der ganzen, wie es auch in der Schweiz geschehen soll:

Australien

Australian Capital Territory

Seit 1992 ist das normale Velofahren allen Menschen verboten. Der Veloverkehr sank um einen Drittel beim Freizeitverkehr und um die Hälfte beim Alltagsverkehr (Ratcliffe P. Bicycling in the ACT - a survey of bicycle riding and helmet wearing in 1992. ACT Dept of Urban Services, Canberra, July 1993). Die Zahl der getöteten blieb gleich hoch - was nichts anderes bedeutet, als dass das Velofahren nicht sicherer, sondern gefährlicher geworden ist (das muss nicht direkte Schadwirkung der Velohelme sein; hier spielt auch die Safety In Numbers, der eingangs erwähnte Zusammenhang zwischen der Zahl der Velofahrenden und der Gefährlichkeit des Velofahrens).

New South Wales

Hiet hat man lustigerweise zuerst den Erwachsenen und erst danach - wenn auch nur 6 Monate später, am 1. Juli 1991 - auch den Kindern das normale Velofahren verboten. Der Veloverkehr, der in den 80er Jahren stark gewachsen war, brach im ersten Jahr nach dem Gesetz um 36% ein. Auch hier stieg die Häufigkeit von Kopfverletzungen, während sie bei Fussgängern (!) sank (Road Traffic Accidents in New South Wales 1992, 1993, 1994. Roads and Traffic Authority of New South Wales).

Northern Territory

Das normale Velofahren wurde 1992 allen Menschen verboten. Seit 1994 ist es teilweise wieder erlaubt, wenn auch nicht auf Strassen. Diese Einschränkung wird jedoch kaum durchgesetzt, sie bleibt im Gesetz, weil der Staat sonst Bundessubventionen verlöre (die australische Regierung hat den Teilstaaten das Velofahrverbot nicht direkt vorgeschrieben, aber zur Bedingung für Subventionsflüsse gemacht). Seit der faktischen Aufhebung des Velofahrverbots fahren über 80% der Velofahrenden wieder normal, und der um fast die Hälfte eingebrochene Veloverkehr erholte sich wieder. Gleichzeitig ist das Velofahren in diesem Teilstaat sicherer als in jedem anderen in Australien (Australia bicycle ownership and use. Australian Bicycle Council, 2004).

Queensland

Seit 1991 ist das normale Velofahren allen Menschen verboten. Die Entwicklung verlief leider gerade anders herum als im Northern Territory: in den ersten 17 Monaten passierte gar nichts, dann griff die Polizei durch und büsste Velofahrer pro Kilometer dreimal so häufig wegen falscher Kopfbedeckung wie alle motorisierten Strassenbenutzer für alle anderen Srassenverkehrsdelikte zusammen. Mit einem Rückgang des Veloverkehrs um über 30% stellte sich der übliche Erfolg solcher Massnahmen denn auch prompt ein. Immerhin waren auch Schädelverletzungen leicht rückläufig, während bei den (gefährlicheren) Hirnverletzungen ein Anstieg zu beobachten war.

Quellen: Bicycle helmet wearing surveys 1990 and 1991. Wikman J, Sims C. Royal Automobile Club of Queensland, Brisbane; King M, Fraine G. Bicycle helmet legislation and enforcement in Queensland 1991-3: Effects on helmet wearing and crashes. Road User Behaviour Section, Queensland Transport, June 1993; Robinson DL. Helmets and bicycle-related injuries in Queensland. Med J Aust, 5 May 1997;166:510

South Australia

hat das normale Velofahren 1991 allen Menschen verboten. Das Verbot ist politisch stark umstritten und wird von der Polizei energisch durchgesetzt: Velofahrende zahlten allein zwischen 2000 und 2003 eine halbe Million australischer Dollar Bussen, weil sie illegalerweise normal Velo gefahren waren. Es gelang den Politikern dadurch, den Veloverkehr um 40% zu reduzieren.

Der Anteil der Kopfverletzungen an der Gesamtzahl der Velounfälle sank vor der Einführung des Verbots. Dieser Abwärtstrend hielt immerhin auch nach dem Verbot noch an, war aber deutlich schwächer, obwohl durch das Verbot die Helmtragquote von 40% auf 90% gestiegen war (Marshall J, White M. Evaluation of the compulsory helmet wearing legislation for bicyclists in South Australia. South Australia Department of Transport, 1994).

Victoria

Seit Juli 1990 ist das normale Velofahren verboten und wird von der Polizei konsequent verfolgt und bestraft - auch hier werden Velofahrende häufiger gebüsst als Automobilisten, auch Inhaftierungen gab es schon. Die Helmtragquote stieg entsprechend von 31% auf 75%.

Der Veloverkehr sank je nach gezählter Altersgruppe um 36% bis 46%. Die Zahl der Verletzten insgesamt sank um 40% - der Anteil der Kopfverletzungen - der bei 75% statt 31% Helmtragquote stark hätte sinken müssen, bewegte sich nur um 1.7 Prozentpunkte nach unten. Bei den Fussgängern sank er hingegen um 2.5%, obwohl diese ohne Plastik auf dem Kopf herumlaufen und deswegen nicht ins Gefängnis kommen.

In der Stadt Melbourne sank die Zahl der schwer verletzten Velofahrenden nach zwei Jahren Velofahrverbot um 12%. Wären die Velohelme daran beteiligt, müssten wir eine Reduktion um mehr als 36-46% sehen, denn um soviel nahm der Veloverkehr ab. Die schweren Verletzungen sind also nicht seltener, sondern häufiger geworden (Cameron M, Newstead S, Vulcan P, Finch C. Effects of the compulsory bicycle helmet wearing law in Victoria during its first three years. 1994. Monash University Accident Research Centre.).

Western Australia

In den 80er Jahren erlebte der Veloverkehr mit jährlichen Steigerungsraten von 12% einen enormen Aufschwung. 1992 wurde das normale Velofahren verboten, worauf der Veloverkehr um 30% einbrach (Hendrie D, Legge M, Rosman D, Kirov C. An Economic Evaluation of the Mandatory Bicycle Helmet Legislation in Western Australia. Road Accident Prevention Research Unit, University of Western Australia).

Die Zahl der Verletzten sank dagegen nur um 11% bzw. 21% (vom Jahr vor dem Verbot bis zum ersten bzw. zweiten Jahr nach dem Verbot). Auch hier wurden die Verletzungen also nicht seltener - dann hätten sie um mehr als 30% sinken müssen - sondern häufiger.

Kanada

Alberta

Seit 2002 ist das normale Velofahren nur noch Erwachsenen erlaubt, den unter 18jährigen aber verboten. Die Velonutzung von Kindern sank um 59%, die von Teenagern um 41% (Hagel BE, Rizkallah JW, Lamy A, Belton KL, Jhangri GS, Cherry N, Rowe BH. Bicycle helmet prevalence two years after the introduction of mandatory use legislation for under 18s in Alberta, Canada. Injury Prevention, 2006;12:262-265).

Vor dem Verbot beobachteten die Spitäler bei 5% aller verunfallten Velofahrenden Kopfverletzungen. In den ersten 6 Monaten nach dem Verbot lag dieser Anteil sowohl bei Kindern wie auch bei allen übrigen Altersgruppen über 10% und nicht unter 5%, wie bei einer Schutzwirkung zu erwarten wäre.

British Columbia

Normales Velofahren wurde 1996 allen Menschen verboten. Der Veloverkehr sank um 30% (Foss RD, Beirness DJ. Bicycle helmet use in British Columbia. UNC). Der Anteil der Kopfverletzungen an allen Verletzungen nahm in der Zeit stetig ab, ebenso die Gesamtzahl der Verletzungen von Velofahrenden und zu Fuss gehenden. Dies war auch in den Provinzen der Fall, die kein solches Verbot erlassen hatten, so dass ein Zusammenhang mit dem Verbot unplausibel ist, zumal dieses die zu Fuss gehenden nicht betrifft (siehe hierzu auch Ontario weiter unten).

Nova Scotia

Ein 1997 eingeführtes allgemeines Verbot des normalen Velofahrens liess den Veloverkehr je nach Altersgruppe um 40-60% sinken (Chipman R. Hats off (or not?) to helmet legislation. Canadian Medical Association Journal, 2002;166(5): p602). Die Zahl der Kopfverletzungen sank ebenfalls um die Hälfte und nicht um mehr, wie zu erwarten wäre, wenn die vermehrt getragene Helme tatsächlich Kopfverletzungen verhindern könnten. Interessant ist, dass die Zahl der verletzten Velofahrenden konstant blieb, d.h. die Verletzungshäufigkeit sich insgesamt verdoppelte.

Der Lichtblick: Ontario

Ontario ist das einzige Staatswesen, in dem der Veloverkehr sich halten konnte, obwohl das normale Velofahren 1995 allen Kindern und Jugendlichen verboten wurde.

Während die Befürworter solche Verbote anerkennen, dass der Veloverkehr dadurch um durchschnittlich 30% sinkt (dies aber nicht als Problem oder Mangel sehen, weil Velos im Verkehr ja sowieso nichts zu suchen hätten), verweisen sie doch gerne auf Ontario, das beweist, dass der Veloverkehr ja nicht zwingend zurückgehen muss, wenn man das normale Velofahren verbietet.

Ontario hat für ein solches Szenario eine günstige Voraussetzung: die Polizei setzt das Verbot nicht durch, und niemand hält sich daran: der Anteil der Helm tragenden nach 1995 kurzfristig stark gestiegen und lag 1999 wieder so tief wie vor 1995.

Der Anteil der Kopfverletzten an den verunfallten Kindern und Jugendlichen sank über die ganzen Jahre konstant: nicht stärker, als das Helmtragen stark zunahm, und überhaupt nicht schwächer, als es wieder absackte: ein deutlicher Hinweis darauf, dass die langfristige Abnahme nichts mit dem Helmtragen zu tun hat.

Dass der Anteil der Kopfverletzungen an der Gesamtzahl der Verletzungen abnimmt, ist übrigens weltweit und bei allen Unfällen zu beobachten, unabhängig davon, ob jemand Helme trägt bzw. tragen muss oder nicht. Dies könnte unter anderem mit einem statistischen Basisffekt zu tun haben: Kopfverletzungen sind selten, werden aber an einer immer höheren Basis gemessen, da in der entwickelten Welt bei allen möglichen Verletzungen immer häufiger Notfallstationen von Spitälern statt Arztpraxen aufgesucht werden.

Israel

2007 wurde ein umfassendes Verbot des normalen Velofahrens eingeführt. 2008 schien das weder den Velofahrenden noch der Polizei bekannt zu sein, die meisten Leute fuhren normal und wurden dafür nicht bestraft.

Ein geplanter Gratisveloverleih in Tel Aviv wurde hingegen abgesagt, weil man keine zahlbare Möglichkeit fand, den möglichen Nutzern immer auch einen Helm mitzugeben. So ist es doch noch gelungen, den Veloverkehr zu bekämpfen.

Neuseeland

Seit 1994 ist das normale Velofahren verboten, das Gesetz wurde durchgesetzt: die Helmtragquote stieg von unter 43 auf 93%. Der Veloverkehr sank um 19%, um gleich viel gingen auch die Verletzungen zurück - genau das, was bei einer völligen Wirkungslosigkeit der Helme eintreten muss (Scuffham P, Alsop J, Cryer C, Langley JD. Head injuries to bicycles and the New Zealand bicycle helmet law. Accident Analysis & Prevention, 2000;32,p565-573.). Es kommt aber noch schlimmer: der Rückgang der Kopfverletzungen hatte schon vor dem Gesetz eingesetzt, die stark gestiegende Helmtragquote änderte den Trend nicht im geringsten (Robinson DL.Costs and benefits of the NZ helmet law). Und noch schlimmer: der weitergehende Rückgang der Kopfverletzungen von Velofahrenden war genau gleich gross wie derjenige bei der übrigen, unbehelmten Bevölkerung (Perry N. The bicycle helmet legislation, curse or cure? University of Canterbury. Presented to Cycling 2001, Christchurch.).

Südafrika

Das Gesundheitsministerium bekämpfte nicht nur die AIDS-Epidemie mit dem Aufruf, mehr Randen zu essen, sondern verbot 2005 auch das normale Velofahren. Das Verbot wird ähnlich befolgt wie der Aufruf, Randen zu essen, nämlich überhaupt nicht.

Das Beispiel Südafrika zeigt uns natürlich nicht, was bei einem solchen Verbot passiert, da es nicht umgesetzt wird. Es zeigt aber sehr gut, dass solche Verbote hauptsächlich dazu da sind, von den tatsächlichen Problemen abzulenken, wie Behörden ticken, die solche Verbote einführen, was sie vom Veloverkehr wissen, und was sie sich unter seriöser Arbeit vorstellen.

Spanien

Seit 2004 ist das normale Velofahren zwar eigentlich bei Strafe von 90 Euro verboten, aber innerorts, auf starken Steigungen, bei grosser Hitze und allen Profifahren doch wieder erlaubt.

Der Polizei und den wenigen Velofahrenden scheint dies nicht bekannt zu sein. In Spanien hat der Veloverkehr mit einem Modalsplit von 0.7% auch keinen Stellenwert.

USA

Kalifornien

verbot das normale Velofahren 1995 den Kindern und Jugendlichen. Es gibt keine Erhebungen über den Veloverkehr und das Helmtragen im gesamten Staat. Die Nichtkopfverletzungen sanken jedoch nach dem Verbot um 14%, was entweder beweist, dass Helme Beinbrüche verhindern (wenn auch nicht gleich 72%, wie die von der vom Astra zitierte Studie berechnet), oder aber, dass der Veloverkehr um 14% zurückging.

Eine Auswertung eines einzelnen Spitals in San Diego (Ming J, Gilchick RA, Bender SJ. Trends in helmet use and head injuries in San Diego County: The effect of bicycle helmet legislation. Accident Analysis & Prevention, 2006;38(1):128–134.) erfasste Kopfverletzungen bei 27.2% aller verletzten Velofahrenden vor dem Verbot und bei 28.2% nachher. Irritierenderweis stieg auch die absolute Zahl der schweren Kopfverletzungen von 59 im Jahr 1992 auf 71 im Jahr 1993 - genau in der Zeit, als das Helmtragen am stärksten zunahm.

USA gesamhaft

Zwischen 1991 und 2001 erliessen 19 Staaten ähnliche Gesetze, so dass das normale Velofahren jetzt 49% aller Kinder und Jugendlichen verboten ist. Dadurch und dank Werbekampagnen stieg die Helmtragquote von 18% auf 50%.

Die Velonutzung nahm in dieser Zeit um 21% ab. Hier handelt es sich zum Teil um eine Verschiebung innerhalb des Freizeitsports; das Velo wird in den USA kaum als Verkehrsmittel genutzt.

Nun müssten wir eine Abnahme der Kopfverletzungen um mehr als 21% sehen. Tatsächlich stiegen diese aber um 10%, wie die New York Times am 29. Juli 2001 meldete. Das Velofahren wurde also nicht sicherer, sondern gefährlicher.

72% weniger Beinbrüche dank Velohelmen - die Geschichte eines Wunders

Der heutige Velohelm wurde von der Stiftung Snell, die nach einem tödlich verunfallten Autorennfahrer benannt ist, zum Schutz von Autoinsassen bei Kollisionen entwickelt. Finanziert wurde die Forschung von der US-Firma Bell, die diesen Helm anschliessend vermarkten wollte.

Die Marketingabteilung von Bell merkte aber schnell, dass man die Autofahrer kaum zum Kauf eines solchen Dings bringen würde. Man hatte aber eine Ersatzzielgruppe parat: Velofahrende, insbesondere velofahrende Kinder. Diese Zielgruppe eignet sich aus zwei Gründen für ein solches Produkt:

Auch wenn diese beiden Zielgruppen dem Plastikhelm gegenüber aufgeschlossener zeigten als die Autofahrer, für die er eigentlich gedacht war, verkaufte sich die Sache nicht von selbst. Die Marketingleute von Bell verfolgten nun eine Taktik, die von ihren Kollegen der Pharmabranche erfolgreich angewendet wurde: den eigenen Artikel zur Lösung einer dringenden medizinischen Frage zu erklären und so den Absatz staatlich fördern zu lassen.

Die Stiftung Snell suchte mit dem Geld von Bell die passenden Forscher und fand das Aerzte-Ehepaar Thompson und deren Kollegen Frederik Rivara. Diese hatten keine Bedenken, die Velohelme im Auftrag und gegen Bezahlung des Verkäufers als wirksam und dringend geboten zu erklären, weil sie damit - ihrer eigenen tiefen Ueberzeugung gemäss - ja nur die lautere Wahrheit verkünden würden.

Das Wunder von Seattle

Diese Wahrheit suchten sie in den Spitaldaten der Jahre 1985 bis 1987 von Seattle, daher der Name "Seattle-Studie". Die Zahlen wollten den Thompsons aber die selbstverständliche Wahrheit gar nicht bestätigen: während 3.2% der Velo fahrenden auf den Strassen mit Helmen unterwegs waren, betrug der Anteil der Behelmten bei den Unfallopfern mit Kopfverletzungen 7% - wer mit einem Velohelm fuhr, erlitt also nicht seltener eine Kopfverletzung, sondern häufiger.

Die Thompsons versuchten, das Problem mit einer zusätzlichen Kategorie "schwere Hirnverletzungen" zu lösen, wobei sie eine Gehirnerschütterung als solche zählten, wenn das Opfer zur Beobachtung eine Nacht im Spital bleiben musste. Dies hängt in den USA zwar vom Versicherungsstatus und nicht von der Unfallschwere ab, aber Thompson/Rivara/Thomspon kamen dabei wenigstens auf einen Helmanteil von nur noch 4%. Das war weniger schlimm, aber immer noch über der Helmtragquote von 3.2% und somit das Gegenteil von dem, was man zeigen wollte.

Kurze Zeit hofften die Thompsons und Frederik Rivara, das Resultat mit der Exposition auf legitime Weise drehen zu können: man könnte irgendwie zeigen, dass die Velofahrer mit Helm genau diejenigen waren, die grösseren Gefahren ausgesetzt waren. Leider zeigte die Beobachtung das genaue Gegenteil: die wenigen behelmten fuhren viel vorsichtiger und korrekter als der grosse Rest.

Was nun? Rivara und die Thompsons retteten sich mit etwas Phantasie: sie entschieden, der Anteil der Helmträger an den Kopfverletzten in den Spitälern nicht mit den real existierenden Velofahrern zu vergleichen, sondern mit einer hypothetischen Kontrollgruppe, die sie durch Befragung von Kindern in einer HMO ermittelten, vermutlich weil diese HMO ihnen bekannt war.

Von den befragten Kindern gaben 21% an, mit dem Velohelm unterwegs gewesen zu sein und dabei einen Unfall gehabt zu haben. Diese unüblich hohe Helmtragquote mag auf Werbung der HMO zurückgehen, vielleicht vielleicht sind die behelmten Kinder ganz einfach öfter gestürzt und haben das dramatischer empfunden als die Unbehelmten. Item, beim Vergleich der verschiedenen Altersgruppen konnten Thompson/Rivara/Thompson nun in einer Altersgruppe (mit genau 3 Kindern in der Kontrollgruppe!) sagenhafte "85% weniger schwere Kopfverletzungen" herausrechnen. An diesem immer wieder zitierten Wert ist die Seattle-Studie immer gleich zu erkennen (A case-control study of the effectiveness of bicycle safety helmets. Thompson, Rivara & Thompson. New England Journal of Medicine 1989, Vol 320 No 21 p1361-7.).

Die Sache mit der manipulierten Kontrollgruppe rächte sich allerdings: wendet man die gleiche Rechnungsart auf die Nichtkopfverletzungen an, erhält man einen Helmschutz von 72%. Wer also davon ausgeht, dass die Seattle-Studie beweist, dass der Helm vor Kopfverletzungen schützt, muss auch annehmen, dass der gleiche Helm 72% aller Arm- und Beinbrüche verhindert.

Dieser Umstand ist seit Mitte der 90er Jahre bekannt. Wer danach - wie das Astra in der Botschaft zur Via Sicura - immer noch mit den Studien von Thompson/Rivara/Thompson etwas beweisen will, hat sich offensichtlich nie seriös mit der Sache befasst.

Aus der Seattle-Studie wird die Cochrane Review...

Zunächst herrschte aber eitel Freude: überall, wo das normale Velofahren seither verboten wurde, waren die Thompson/Rivara/Thompson mit ihrer Seattle-Studie vorne dabei, besonders Diana Thompson mit einer geradezu religiösen Ueberzeugung. Als sich aber keine Wirkung einstellen wollte - nicht weniger Kopfverletzungen, und schon gar keine Abnahme von 85% - und die Verbote in die Kritik gerieten, legten die Thompson/Rivara/Thompson mit einer Meta-Analyse nach. Eine Meta-Analyse ist normalerweise die Zusammenfassung bestehender Studien durch unabhängige Wissenschaftler. Da dies bei der Seattle-Studie ziemlich peinlich geendet hätte, besorgten Thompson/Rivara/Thompson die Meta-Analyse gleich selber und vervielfältigten in der Cochrane Review 1996 ihre eigenen Studien, zusammen mit drei weiteren, deren Fallzahlen so klein waren, dass sie das Resultat nicht beeinflussen konnten. Trotzdem wurden aber auch diese sorgfältig ausgewählt: was nicht das "richtige" Ergebnis hatte, wurde als "unsuitable for incorporation" ausgeschlossen.

Von den kleineren Studien ist die von McDermott erwähnenswert: nachdem ihn das australische Strassenverkehrsamt bauftragt hatte, die positive Wirkung von Velohelmen zu beweisen, zählte er getötete Velofahrer und fand, wie schon Thompson/Rivara/Thompson in Seattle, das genau Gegenteil: behelmte Velofahrer kamen häufiger zu Tode. McDermott zeigte nun eine geradezu leichenschänderische Kreativität und entfernte getötete Helmträger aus der Statistik, weil sie seiner Meinung nach den Helm "nicht korrekt" getragen hätten. Er musste das mit mehr als der Hälfte der Opfer tun, bis das Resultat endlich auf die gewünschte Seite kippte.

Dadurch änderte sich die Aussage von Thompson/Rivara/Thompson: statt 85% weniger Kopfverletzungen, sollt es nun 70% weniger geben, falls der Helm korrekt getragen werde.

...und aus deren Asche entsteigen Attewell, Glase und McFadden

Fünf Jahre später war es wieder soweit: Neue Studien zeigten die negativen Auswirkungen der Helmobligatorien. Das gebetsmühlenartig vorgetragene "an der Wirksamkeit von Velohelmen kann kein Zweifel bestehen" musste neu untermauert werden, auch wenn kein brauchbares Material dazu zur Verfügung stand: wohl oder übel musste die Seattle-Studie noch einmal als Meta-Analyse verfielfältigt werden.

Diesmal gelang es Thompson/Rivara/Thompson, ihre Namen im Hintergrund zu halten: Attewell/Glase/McFadden addierten die Zahlen der Seattle-Studie bzw. Cochrane Review und reicherten sie mit 9 weiteren Studien an, die alle einen ähnlichen Kontrollgruppen-Trick wie die Seattle-Studie enthielten: man wählte eine geeignete, aber in der Realität nicht existierende Kontrollgruppe oder ignorierte die Exposition gänzlich.

Attewell ed.al. zitieren 63 Studien, von denen sie 47 gleich wieder als unverwertbar ausschlossen, meistens mit dem Argument, deren Design sei inkompatibel. Inkompatibel war dabei meist das Ergebnis: die meisten der 47 ausgeschlossenen Studien arbeiten nicht mit einer hypothetischen Kontrollgruppe, sondern mit der realen Entwicklung der Verletzungen in der der real existierenden Bevölkerung. Während Attewell ed.al. diesen Ansatz ungeeignet fanden, erkannten sie die Seattle-Studie mit ihren 72% weniger Beinbrüchen als durchaus geeignet an. Man mag von diesem Ansatz halten, was man will: etwas Transparenz ist wenigstens da.

Denn Attewell ed. al. erwähnten diese 47 anderen Studien noch; das Bundesamt für Strassen behauptet hingegen im Bericht zur Via sicura: "Die Wirksamkeit des Velohelms zum Schutz der Rad Fahrenden ist unbestritten. In 16 international publizierten Studien..."
Von den 47 anderen kein Wort. Ein solches Vorgehen ist irreführend und wissenschaftlich unredlich, zumal das Bundesamt für Strassen auf Nachfrage (und zwar erst nach der vierten Nachfrage) zugibt, von den vielen Studien mit gegenteiligen Resultaten Kenntnis zu haben, also genau zu wissen, dass die Schutzwirkung von Velohelmen alles andere als unbestritten ist.

Vom British Medical Journal mit der Erkenntis konfrontiert, dass bei einem Verbot des normalen Velofahrens nur der Veloverkehr zurückgeht, nicht aber die Kopfverletzungen, erklärten Rivara und drei seiner Kollegen quietschfidel, 30% weniger Veloverkehr seien aus gesundheitlicher Sicht kein Problem, und "6 unabhängigen Studien" (er meinte damit sein eigenes Seattle-Cochrane-Konstrukt) hätten die Wirksamkeit der Velohelme in der Theorie nun mal bewiesen (British Journal of Medicine 332-725, 25. März 2006).

Darauf reagierte der britische Unfallforscher John Franklin mit einem eigenen Beitrag: Dass eine Abnahme des Veloverkehrs um 30% keinen Schaden bedeute, dass mehr Bewegungsmangel und mehr Motorfahrzeugverkehr "schwache Argumente" darstellten, sei für Leute aus medizinischen Berufen eine einigermassen erstaunliche Aussage. Mit ewigen Zirkelverweisen auf die eigenen Arbeiten und extremistischen Behauptungen wie "85% weniger schwere Kopfverletzungen", die sich dann in der realen Welt nirgendwo bestätigten, drohten die Autoren nicht nur sich selber, sondern bald auch die Ärzteschaft insgesamt in Verruf zu bringen. Es sei höchste Zeit, das leidige Thema Velohelmobligatorium abzuschliessen und statt dessen zu fragen, wie man Unfälle von vornherein verhindern oder die Gesundheit fördern könne - mit weniger Autoverkehr und mehr Velofahren zum Beispiel.

Zollikofen, 7. März 2009.


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